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Testbericht Gilera FB 600 Nordwest/-cape Bj. 1993

Testbericht von: Samuel Mischler
Gesamtwertung:
Technik:
Verarbeitung:
Zuverlässigkeit:
Fahreigenschaften:
Preis/Leistungsverhältnis:
Würdest Du das
Motorrad nochmal kaufen?:
Ja
Vorteile: Fahrwerk, Bremsen, Fahrbarkeit, Handling, Motor
Nachteile: z.T. schlammpige Verarbeitung (Verkleidung), etwas mehr Leistung dürfte sein, hohe Gebrauchtpreise, Gewicht
Beschreibung: Die Gilera Nordwest (Schweiz) oder Nordcape (Deutschland) ist ein wahres Original. Nachdem mitte der 80er Jahre in Frankreich der Trend aufkam, Enduromaschinen mit Strassenfelgen, -fahrwerken und -reifen auszurüsten, wurde von Gilera 1988 das erste (damals nannte man das noch Funduro) Funbike auf die Strasse gestellt. Damit besetzte Gilera eine Nische, die seither nur noch KTM mit der Duke belegt. Denn im Gegensatz zu Husquarna, Kawasaki, Suzuki und Co. ist die Nordwest wie die Duke kein aufgemotztes Enduro-Mopped, sondern eine Weiterentwicklung, bei der lediglich der Motor und allenfalls weitere Zutaten wie z.B. Rahmen von der Enduro stammen. Fahrwerke, Räder, Verschalung, Fahrwerksgeometrie, Sitzposition usw. wurden geändert bzw. neu entwickelt.

Motor:
Technisch basiert die Nordwest motorenseitig auf der RC600, die Gilera als Enduro auflegte. Der Motor ist ein Einzylinder mit 4 Ventilen, 560 ccm und 44 PS. Der Motor verfügt des weiteren über eine Ausgleichswelle. Offiziell wurde die Nordwest als 27 PS-Version in Deutschland und z.T. auch in die Schweiz importiert. In die Schweiz wurden aber auch die offenen Versionen importiert.
Der Motor ist ein bulliger Geselle, der jedoch Drehzahlen über 3'200 U/min braucht, um sich nicht wie ein nasser Hund zu schütteln. Darüber zieht er kräftig los und stürmt hurtig nach oben. Speziell Besitzer, die das Polrad abgedreht haben, schwärmen von der zusätzlichen Drehfreudigkeit des Motors.

Technische Daten:
Gewicht: 173 kg nass fahrbereit
Beschleunigung von 0-100*: 5,6 sec.
Höchstgeschwindigkeit*: 168 km/h (Tester 182 km/h radargemessen auf der Rennstrecke)
Verbrauch: 6,5 -7 l Landstrasse, 10 - 12 (!!) Liter Rennstrecke
Tankvolumen: 12 Liter

Fahrwerk:
Die Gilera Nordwest ist ein wahres Funbike. Gedrungene Erscheinung, Halbverkleidung, 17"-Felgen mit 120/17/70 vorne und 160/17/70 hinten, Doppelscheibenbremse vorne machen die Nordwest zu dem was sie heute noch ist: Ein Kurvenfeger, denn jeder unterschätzt.
Das Fahrwerk in Zusammenarbeit mit den Reifen und den Bremsen stellt denn auch die Sonnenseite des Motorrades dar.
Als Reifen werden Avon Azzaro Sport (Supersport im Regen auf der Rennstrecke) empfohlen. Doch auch Michelin Pilot Sport (ebenfalls Supersport im Regen auf der Rennstrecke) eignet sich hervorragend für dieses Motorrad. Allerdings ist mit dem Michelin ein erhöhtes Aufstellmoment beim Bremsen in der Kurve festzustellen. Achtung: Die Nordwest ist ein Reifenfresser. Supersportreifen halten bei forcierter Gangart gerade mal um 800 km auf der Strasse (Hinten UND vorne!). Sportreifen halten das doch doppelt so lange aus.
Weiter anzumerken ist, dass mit den beiden Reifenpaarungen eine Eigenart der Nordwest beinahe zur Gänze verschwindet: Z.B. mit Dunlop D207 ausgestattet neigt die Nordwest dazu, kaum eingelenkt in die Kurve zu kippen, was Gegenmassnahmen zur Folge hat.
Empfindliche Naturen werden des weiteren feststellen, dass das Heck der Nordwest in schnell gefahrenen Kurven zum pumpen neigt. Diesem Phänomen kann jedoch mit einer weiteren Vorspannung der hinteren Feder begegnet werden.
Sonst ist das Fahrwerk ein Muster an Stabilität! Selbst bei Höchstgeschwindigkeit ist die Nordwest nicht aus der Ruhe zu bringen. Wird beispielsweise auf der Autobahn an einem Lenkerende gerissen, fängt sich die Nordwest sofort wieder und loift weiter stoisch gerade aus.
In der Fangemeinde herrscht Uneinigkeit, ob die Nordwest nun im Super-Moto-Stil oder aber Hang-off bewegt werden soll. Ich ziehe Hang-off vor. Denn damit sind nicht nur auf der Rennstrecke atemberaubende Kurvengeschwindigkeiten möglich.
Als Vergleich: In Anneau du Rhin ist die Nordwest Hang-off gefahren nur auf der Geraden abzuhängen. In den Kurven hängt der Einzylinder wie ein Schatten an den Hinterrädern der 2-, 3- oder 4-Zylinder.
Und genau da helfen die Bremsen mit. Zwei Scheiben vorne (282 mm) und eine hinten (Durchmesser kenn' ich nicht). Die vorderen und die hintere Scheibe sind mit je vierkolben Bremssättel ausgestattet. Das reicht, um an jeder anderen Maschine innen oder auch mal aussen vorbeizubremsen oder vorbeizupressen. Sie erfordern zwar etwas hohe Handkraft, sind aber gut zu dosieren. Lediglich auf der Rennstrecke oder bei Bergabfahrten (Highlight auf der Nordwest) ist ein wandern des Bremspunktes um etwa 1,5 mm Hebelweg festzustellen. Danach aber bleibt der Bremspunkt stabil. Die Bremsleitungen sind übrigens serienmässig mit Stahlflex-Ummantelung versehen.

Komfort:
Der Knieschluss ist eng, aber leider sind die Fussrasten etwas zu hoch im Verhältnis zur Sitzbank und zum Lenker. Die Verkleidung bietet nur mässig Windschutz und auf der Autobahn oder bei Höchstgeschwindigkeit sind Muckies in den Armen gefragt.
Der Motor vibriert wie es sich gehört: Merklich. Zum Vergleich: Mittelding zwischen BMW F650 und KTM 620.
Sozius: die Nordwest ist nur bedingt Soziustauglich. Das Motorrad ist hinten asymetrisch. Durch den Auspufftopf auf der rechten Seite ist da die Verschalung stärker nach aussen gewölbt. Der Sozius muss also diese Bein mehr nach aussen halten, um überhaupt sitzen zu können. Sonst sei das Motorrad und die Sitzbank durchaus bequem, versichert mir meine Frau. Und: Der Fahrer sollte es sich gewohnt sein, das Gewicht für zwei mit seinen Armen abfangen zu können. Denn die Sitzbank fällt nach vorne ab und wie gesagt: Die Nordwest hat starke Bremsen.

Touren:
Das Motorrad hat einen sehr geringen Aktionsradius. Der schwankt je nach Gangart zwischen 140 und 200 km. Dann muss die Tankstelle aber zur Hand sein. Gepäckträger ist auch dran, darf aber offiziell nur mit 5 kg beladen werden. Doch auch wir haben schon grosse Touren (3000 km in 10 Tagen) erfolgreich hinter uns gebracht.

Qualität/Zuverlässigkeit/Reparaturen:
Wir besitzen zur Zeit drei Nordwest. Eine ist meine (in vier Jahren 32tkm gelaufen), eine meiner Frau (letzten Sommer gekauft und gleich Unfall gehabt) und die dritte benutzen wir zum Ausschlachten. Und genau hier liegt das Problem. Seit Gilera nur noch Roller und Kleinmotorräder herstellt, sind Ersatzteile immer schwerer zu bekommen. Es lohnt sich, einen Mechaniker mit Flair und guten Beziehungen zu haben. Dies ist auch nötig, denn die Italiener haben beim Zusammenbau der Maschinen manchmal arg geschlampt. Dies ist vor allem der Verschalung anzusehen, die ständig reisst.
Rein mechanisch und elektrisch aber zeigt die Gilera keine Schwäche. Im Gegenteil: Die Motorräder glänzen mit Zuverlässigkeit, die mir sonst nur von japanischen Moppeds bekannt ist.
Reparaturen sind auf Grund hoher Ersatzteilkosten i.d.R. toier und daher am Besten selbst zu machen.

Tipps:
Die Ventile sind Zahnriemen gesteuert. Denn Zahnriehmen unbedingt alle 12tkm wechseln. Sonst setzt flache Ventile!
Auf Grund der Sitzhöhe wird die Nordwest des öfteren als ideales Frauenmotorrad dargestellt. Doch hier muss gesagt sein, dass die Nordwest auf Grund ihrer typisch italienischen Fahrwerkauslegung eine kräftige Hand bevorzugt.
Kontakte im Internet: www.gileraclub.de ist DIE deutsche Internet-Adresse für Gileras der letzten Generation (Saturno, Nordwest/Nordcape, RC, NGR usw.usf).
Für ältere Modelle www.motalia.de aufrufen.

Fazit:
Die Nordwest ist ein Motorrad mit Charakter. Dabei hat sie aber auch eine Tugend, die man sonst von italienischen Bikes nicht gewohnt ist: Zuverlässigkeit.
Und: Für Motorradkollegen, die nun glauben, 44 PS reichen nie und nimmer, um mit grossen Motorrädern mithalten zu können, sei hier folgender Rat:
Erstens: MOTORRAD vom 2. Februar 2001 lesen und staunen, was ein Einzylinder kann.
Zweitens: Sich mal an ein solches Einzylinderchen ranhängen und staunen.
Drittens: Mir mailen und wir werden sehen.

Ein sturzfreies 2001 allen!








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